Es ist März 2023 als Stephan L.* am U-Bahnhof Blaschkoallee am Bahnsteig steht. Er hat sein Smartphone in der Hand. Als Musiker hat er immer eine Menge zu tragen. Es ist ein Knochenjob. Béla S. tritt von der Seite an ihn heran und sprüht ihm aus nächster Nähe Pfefferspray ins Gesicht. Der „gesondert verfolgte Andreasen“ tritt ebenfalls an Stephan L. heran, schlägt ihm zwei mal mit der Faust ins Gesicht und entreißt ihm das Smartphone. Wegen der ausgewerteten Videos der BVG lässt sich der Vorfall minutiös rekonstruieren.
Beide laufen die Treppen hinauf, Passanten verfolgen die beiden, so dass sie kurze Zeit später von einer Streifenwagenbesatzung der Berliner Polizei festgenommen werden können. Stephan L. wird später sein Smartphone in einem Geräusch lokalisieren können. Das Display ist gesprungen.
Es ist das vorläufige Ende einer kriminellen Karriere. 15 Stunden später wird Béla S. am Tempelhofer Damm einem der Ermittlungsrichter zur Verkündung des Haftbefehls vorgeführt. Er wird ihn zwar erlassen, ihn aber außer Vollzug setzen. Ab jetzt wird sich der 20-jährige Béla S. drei Mal in der Woche bei dem für ihn zuständigen Polizeiabschnitt melden müssen. Béla lebt dort seit einigen Monaten in einer Notunterkunft für junge Erwachsene. Wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben wird Béla vor Auge geführt, dass Regelbrüche ernsthafte Konsequenzen haben können.
Hier aber fängt die Berliner Bürokratie an: Welcher Polizeiabschnitt ist für Béla S. zuständig: Ist es der Festnahmeort, oder seine letzte Wohnanschrift. Bélas Mutter wurde, als er 12 Jahre alt war, das Sorgerecht entzogen. Sie kam nicht mehr mit ihm zurecht. Béla galt als verhaltensauffällig; erhielt einen Betreuer, der ihn nicht mehr betreuen wollte. Er würde ihn „abstechen“ wollen, schrieb er einmal in einer Nachricht an seine Mutter. Als der Betreuer von dieser Nachricht erfuhr, beendet er die Betreuung. Béla hat ab dann keinen festen Ansprechpartner mehr. Die Akten wandern von einem nördlichen Berliner Bezirk in einen südlichen Berliner Bezirk. Fast ein Jahr dauert dieser Vorgang. In diesem Jahr fühlt sich niemand für ihn zuständig. Nachrichten bleiben unbeantwortet oder werden weitergeleitet – oder liegengelassen.
Es folgen Aufenthalte in Albanien und anderen Einrichtungen. Béla verlässt die Schule mit dem erweiterten Hauptschulabschluss. Eine Berufsausbildung findet er nicht. Sein neuer Betreuer scheint alle Bemühungen zu blockieren – entweder kommt Béla ins Gefängnis oder in die geschlossene Psychiatrie, heißt es. Er sei dann kein Fall mehr für ihn. Mühe scheint er sich nicht mehr wirklich geben zu wollen.
Doch Béla reißt sich in den vergangenen Monaten zusammen: Meldet sich wie von ihn verlangt bei einem im Norden gelegenen Polizeiabschnitt. Zur Hauptverhandlung verständigt man sich informatorisch darauf, viele der Angeklagte Taten nicht weiter zu verfolgen. Bela hatte den neuen Lebensgefährten seiner Mutter mehrfach beleidigt. Ihn und seine Mutter als Zeugen zu vernehmen, soll nicht passieren. Am Ende bleibt gleichwohl ein buntes Bündel an Delikten: Beleidigungen gegen Polizisten, Tätlicher Angriff auf Polizeibeamte, das Werfen von Gegenständen auf Polizisten und der schwere Raub.
Béla wird zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Zwei Jahre lang darf er sich nichts mehr zu Schulden kommen lassen, sonst muss er für ein Jahr in Haft. Im Jugendstrafrecht erhält er zwangsläufig einen Bewährungshelfer and die Seite gestellt. Außerdem muss er 60 Sozialstunden ableisten. Die Erlöse in Höhe von rund 750,- Euro erhält Stephan L. für das defekte Smartphone und ein wenig als Schmerzensgeld. Währenddessen sitzt in der Jugendstrafanstalt Plötzensee der gesondert verfolgte Andreasen in Untersuchungshaft. Er hatte mehrere schwere Raubtaten begangen und muss mit einer mehrjährigen Haftstrafe rechnen.
* Béla S., der in Wirklichkeit anders heißt, wurde in dem Verfahren von Rechtsanwalt Ehssan Khazaeli verteidigt. Zum Schutz einzelner Verfahrensbeteiligter werden im Blog Orte, Bezirke und weitere Einzelheiten verfremdet, um Rückschlüsse zu verhindern oder zumindest zu erschweren. Mandanten stimmen in der Regel der Veröffentlichung zu.
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